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4. Jahrestagung

30. September-2. Oktober 1999
Tübingen, Universitätsbibliothek

Tagungsbericht

Tübingen, 30. September-2. Oktober 1999

Bibliothekare, Kunsthistoriker, Restauratoren und Bibliophile fanden sich am Abend des 30. September 1999 im Historischen Lesesaal der Universitätsbibliothek Tübingen ein, wo der Arbeitskreis für die Erfassung und Erschließung Historischer Bucheinbände (AEB) seine 4. Jahrestagung eröffnete. Dass diesmal fast 70 Teilnehmer aus dem In- und Ausland angereist waren, zeigt das weiter gestiegene Interesse an der Einbandforschung.

Dr. Berndt von Egidy, der Leiter der Universitätsbibliothek, begrüßte in Vertretung des Rektors die Versammlung. Er leitete über zu Dr. Gerd Brinkhus (Tübingen), der in seinem Eröffnungsvortrag "Buchstadt Tübingen" die 500-jährige Tradition der Universitätsstadt als Druck- und Verlagsort vermittelte und auf die historischen Bibliotheken einging:

Die Druckgeschichte Tübingens beginnt relativ spät 1498, als sich mit Johann Otmar aus Reutlingen der erste Buchdrucker der Universität in deren Matrikel eintrug. Ihm folgten u. a. Thomas Anshelm und Ulrich Morhart. Erhard Cellius, Professor für lateinische Sprache und Dichtkunst, betrieb um 1600 eine florierende Druckerei mit Verlag. Einen Höhepunkt der Buchhandelsgeschichte Tübingens stellt die Gründung des Cottaverlages 1659 dar. Die Universitätsdrucker waren zwar privilegiert, jedoch auch der Zensur unterworfen, die erst 1848 völlig abgeschafft wurde. Mit der Zensur verbunden war eine Pflichtablieferung an die Universitätsbibliothek. Die 1477 von Graf Eberhard im Bart gegründete Universität besaß von Anfang an eine "bibliotheca publica". Ihr Gründungsbestand ging jedoch 1534 beim Brand des Sapienzhauses zu Grunde. Erst 1547 erhielt die Universitätsbibliothek in der Alten Aula wieder eigene Räume, ab 1818 war sie im Schloß Hohentübingen untergebracht. 1912 konnte das Haus in der Wilhelmstraße mit seinem heute Historischen Lesesaal bezogen werden. Daneben existierten noch andere Bibliotheken: Außer der schon im 15. Jahrhundert anzunehmenden Ratsbibliothek ist hier die Bibliothek des Evangelischen Stifts zu nennen, das Herzog Ulrich 1536 im ehemaligen Augustinerkloster für die Ausbildung der nunmehr reformierten württembergischen Theologen gründete. Der bücherliebende Herzog Christoph, sein Sohn und Nachfolger, richtete auf Schloß Hohentübingen mit der Intention einer wissenschaftlichen Archivbibliothek eine "Fürstliche Liberey" ein. Sein Sohn Herzog Ludwig installierte 1594 im ehemaligen Barfüßerkloster das Collegium Illustre als "Adelsakademie" für die Verwaltungsbeamten und stattete es mit Büchern aus seiner Hofbibliothek in Stuttgart aus. 1635 wurden als Folge des Sieges der Katholischen Liga die Bestände der Tübinger Schloßbibliothek und des Collegium Illustre an die Münchner Hofbibliothek des Kurfürsten Maximilian überführt. So blieben sie bis heute fast vollständig in der Bayerischen Staatsbibliothek erhalten.

Zur Erläuterung seines geschichtlichen Überblicks hatte Dr. Brinkhus eine Ausstellung Tübinger Bucheinbände gestaltet, die während der gesamten Tagung besichtigt werden konnte.

Der Freitag (1.10.) begann mit einer Begrüßung der Teilnehmer durch Dr. Konrad von Rabenau, den Vorsitzenden des AEB. Für zwei von ihm geplante Projekte bat er um Mithilfe: 1. Projekt zur Stempelerfassung, bei dem er beabsichtigt, die in der Literatur vorkommenden, aber in den Verzeichnissen von Ilse Schunke (Die Schwenke-Sammlung gotischer Stempel- und Einbanddurchreibungen, Bd. 1.2, Berlin 1979-1996) und Ernst Kyriss (s.u.) nicht aufgeführten Werkstätten zusammenzufassen. 2. Projekt zur Bücherheraldik, bei dem es darum geht, Abreibungen von Wappensupralibros auf Einbänden anzufertigen und ihm zugänglich zu machen. Herr von Rabenau erklärte seinerseits seine Bereitschaft, bei Identifizierungsfragen zu helfen.

Annette Georgi (Münster) hielt den ersten Vortrag des Tages: "Prachteinbände des Historismus". Der Ausdruck "Historismus" bezeichnet die Übernahme historischer Formen bei teilweise freier Kombination der Stile in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von unserem heutigen Kunstverständnis her ist die erste Reaktion auf derartige Einbände, die nicht nur Bücher, sondern häufig Alben und Mappen schmücken, meist ablehnend: sie werden als kitschig empfunden. Das Referat konnte aber die Hintergründe zeigen, die zu dieser Art der Einbanddekoration führten und dadurch Verständnis für sie wecken. Der Grund für die Entstehung der Historismus-Handeinbände ist in der zunehmend industriellen Form der Buchproduktion zu sehen. Neue Materialien wie Kaliko, ein Baumwollgewebe, ersetzten das teure Leder und ermöglichten doch durch maschinelle Bearbeitung (z.B. Reliefprägung) aufwendig aussehende Bücher bei niedrigen Herstellungskosten. Die handwerklich arbeitenden Buchbinder mußten daher nach einem neuen Kundenkreis suchen. Den fanden sie beim Adel und vor allem beim zu Wohlstand gekommenen Bürgertum. Dieses suchte eine Ausdrucksform zur Selbstdarstellung seiner gefestigten neuen Position, konnte aber keine eigenen ästhetischen Maßstäbe setzen. Seine Orientierungslosigkeit führte dabei zur Rückbesinnung auf das "Bewährte", was auch der konservativen Grundhaltung des Handwerks entgegenkam. Die handgearbeiteten Einzelstücke sollten den Abstand zum Industrieprodukt augenfällig machen. Die Einbände wurden auf vielfältigste Weise, manchmal überaus üppig, geschmückt: Lederschnitt, Intarsien, Samt und Seide mit Vergoldung, Kombination verschiedener Stoffe, Beschläge, Stickereien, Malerei wurden verwendet. Diese Arbeiten erforderten großes handwerkliches Können. Bei der Zurückstellung ästhetischer Fragen und genaueren Betrachtung einzelner Handeinbände - Frau Georgi zeigte Dias exemplarischer Stücke - gewinnen diese daher an Reiz als Beispiele exzellenter Handwerkskunst. Das Thema der Historismus-Einbände fand erst in den letzten Jahren durch einzelne kürzere Beiträge Beachtung. Eine umfassende wissenschaftliche Bearbeitung ist ein Desiderat.

Den zeitlichen Ablauf weiter verfolgend, berichtete anschließend Prof. Mechthild Lobisch (Halle) über den Einbandgestalter Otto Dorfner. Als Leiterin der Studienrichtung Buch in der Fakultät Kunst der Hochschule für Kunst und Design Halle - Burg Giebichenstein gründete sie 1997 das Otto-Dorfner-Institut mit Sitz in Weimar. Die Hochschule nutzt die im Otto-Dorfner-Haus noch original vorhandene Werkstatt Dorfners für die praktische Ausbildung ihrer Studenten und kämpft seit Jahren um die bauliche Sanierung des Hauses. Dessen Situation wurde aus Dias deutlich, die auch einen Blick auf die umfangreiche Stempelsammlung in den Originalschränken erlaubten. Otto Dorfner (1885-1955) gilt als Schlüsselfigur der deutschen Einbandkunst vom Jugendstil bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Er arbeitete 1910 in Weimar mit Henri van de Velde am Bauhaus und wirkte fortan stilbildend auf viele Schüler. Besonders bekannt sind seine Einbände zu den verschiedenen "Faust"-Ausgaben. Ab etwa 1933 ist eine radikale Stiländerung zu bemerken. Zu Otto Dorfners Wirken fand 1999 die Ausstellung "Zwischen van de Velde und Bauhaus" in Kirchheim unter Teck und in Halle statt. Sie wird vom 17. Februar bis 19. März 2000 im Kunstkabinett Weimar nochmals zu sehen sein, anschließend im Musée Royale de Mariémond, Belgien, und an weiteren Orten innerhalb und außerhalb Deutschlands.

Nach der Mittagspause trafen sich die Teilnehmer im Tübinger Wilhelmstift. In den Räumen des ehemaligen Collegium Illustre befindet sich seit 1817 das Hochschulkonvikt der Diözese Rottenburg-Stuttgart für die Theologiestudenten. Die angeschlossene Bibliothek verfügt über einen bedeutenden Altbestand mit meist originalen Einbänden, die aus den säkularisierten Klöstern übernommen wurden. 9000 Bände sind ein Legat aus der Privatbibliothek König Wilhelms I., nach dem das Konvikt benannt ist. Der Bibliotheksleiter Eugen Fesseler führte durch das ansprechend modernisierte Gebäude, wobei er auch die Büchermagazine nicht ausließ. Zum Abschluss und Höhepunkt hatte er für die Experten die bemerkenswertesten Einbände aus seiner Bibliothek ausgestellt, die ausgiebig betrachtet und untersucht werden durften.

Am späten Nachmittag nahm die Vortragsreihe ihren Fortgang mit Dr. Joachim Migl (Stuttgart). Er stellte den Nachlass des Einbandforschers Ernst Kyriss (1881-1974) vor, den die Württembergische Landesbibliothek Stuttgart verwahrt. Noch zu seinen Lebzeiten, 1960, war der Kaufvertrag zustande gekommen. Kyriss hat in seinem vierbändigen Werk "Verzierte gotische Einbände im alten deutschen Sprachgebiet", Stuttgart 1951-1958, nur einen Teil seines in 63 Bibliotheken gesammelten Materials veröffentlicht. Der Nachlass enthält Durchreibungen von ca. 50000 Einbänden in 357 Mappen, die Kyriss selbst angelegt hat. Die Mappen sind nach dem Alphabet der von ihm besuchten Städte geordnet; parallel dazu gibt es Ringbücher mit Anfängen einer Erschließung. 31 Mappen enthalten Material der einzelnen Werkstätten bibliotheksübergreifend. Da ein Register fehlt, ist jedoch insgesamt die Ermittlung von Werkstätten aus dem Kyriss-Nachlass nicht einfach. Es besteht deshalb längerfristig die Absicht, eine kombinierte Text-Bild-Datenbank aufzubauen, um Recherchemöglichkeiten zu schaffen. Ein erster Schritt ist die Herstellung von Papierkopien, die verfilmt oder digitalisiert werden sollen. Stempel sollen dabei als eigene kleine Bilddateien abgespeichert werden. Zur Zeit läuft eine Testphase zur Ermittlung der optimalen Bedingungen.

Innerhalb des AEB gibt es fünf Arbeitsgruppen, von deren Fortschritten anschließend berichtet wurde. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass die Arbeitsgruppe Terminologie der Stempel des 15. Jahrhunderts (Sprecherin: Sylvie Karpp-Jacottet) seit der letzten Jahrestagung die Liste der Motive fertig gestellt hat. Auch die romanischen Buchstempel sind vollständig berücksichtigt. Damit wird endlich im deutschen Sprachraum Eindeutigkeit bei Identifizierung und Benennung der gotischen Stempelmotive erreicht. Die DFG hat eingewilligt, das Verzeichnis in ihre Datenbank zu übernehmen. Die Arbeitsgruppe EDV (Andreas Wittenberg) teilte mit, dass die Einbanddatenbank an der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz inzwischen die Testphase beendet hat und das Programm zufrieden stellend läuft. Text und Bilder werden eingescannt. Besonders gute Ergebnisse bringt ein Farbscanner. Die Datenbank soll in naher Zukunft online zugänglich sein. Helma Schaefer (Leipzig) von der Arbeitsgruppe Bucheinband des 19./20. Jahrhunderts beklagte das Fehlen kompetenter Mitarbeiter. Sie erklärte ihre Absicht, alte richtungweisende Fachaufsätze, die heute schwer zugänglich sind, als Reprint im Mitteilungsblatt des AEB "Einband-Forschung" zu veröffentlichen. Dag-Ernst Petersen (Wolfenbüttel) erarbeitete ein Konzept für die neu installierte Arbeitsgruppe Einbandtechnik. Wie Gerhard Karpp (Leipzig) berichtete, wurden die Einzelarbeiten bereits auf die Mitglieder dieser Gruppe verteilt.

Zusätzlich zum vorgesehenen Programm erläuterte Prof. Jos M. M. Hermans (Groningen) das von der DFG geförderte Digitalisierungsprojekt der Johannes a Lasco-Bibliothek Große Kirche Emden. Dabei wird nicht nur der eigentliche Buchtext digitalisiert, sondern es werden auch Einband und handschriftliche Einträge berücksichtigt. Die Buchtitel sind im Internet abrufbar und führen dann zu den weiteren Informationen. Der AEB ist zur Zusammenarbeit eingeladen; eine der nächsten Jahrestagungen soll in Emden stattfinden.

Ein Zeitsprung führte am Samstag (2.10.) um Jahrhunderte zurück, zum Kopert des Mittelalters. Beim Kopert handelt es sich um eine flexible Einbandform, deren Definition bereits bei der letzten Jahrestagung 1998 in Hildesheim kontrovers diskutiert wurde. Agnes Rie (Nürnberg) hatte auf ausgedehnten Bibliotheksreisen original erhaltene Koperte aufgespürt (das älteste stammt aus dem 8. Jahrhundert) und zeigte ihre Funde anhand von Dias. Sie legte an jedem Einzelfall dar, ob es sich noch um den Primär- oder um einen Folgeeinband handelte, der den ursprünglichen abgelöst hatte. Dabei stellte sich auch die Frage, ob ein bestimmtes Kopert ein Interimseinband ist, der bei Gelegenheit durch einen dauerhafteren ersetzt werden sollte (und dementsprechend "billig" hergestellt wurde), oder ein eigenständiges auf Praktikabilität abgestelltes Produkt. Die meisten der vorgestellten Koperte waren offensichtlich auf Dauer angelegt. Sie bestehen in der Regel aus Leder oder Pergament; selten kommt Stoff oder Papier als Einbandmaterial vor (z.B. bei einem Einband in der Bibliothek der Hansestadt Lübeck aus dem 15. Jh.). Zum Befestigen der Einbanddecke am Buchblock haben sich besondere Hefttechniken ausgebildet. Koperte wurden für Handschriften verwendet, die ständig im Gebrauch waren: Philosophische, komputistische, grammatische und rhetorische Texte, Wörterbücher, Predigten und Traktate. Da die Form des flexiblen Einbands sich über Jahrhunderte erhalten hat, ist eine Datierung sehr schwierig. Meist lässt sich aus dem enthaltenen Text wenigstens ein Terminus ante quem non erschließen. In der Universitätsbibliothek Innsbruck hatte Frau Rie unter den Beständen aus dem Zisterzienserkloster Stams in Tirol mehrere Koperte neu entdeckt und stellte sie zum ersten Mal vor.

Dr. Robert Schweitzer (Lübeck) erläuterte ergänzend dazu mit eigenen Dias die von Frau Rie beschriebenen Lübecker Koperte.

Danach zeigte Werner Hohl (Graz) Abreibungen von Ornamentplatten, die besonders in der Renaissance als Einbandschmuck gebräuchlich waren. Sie werden in der Literatur beschrieben als "Bandwerkverschlingungen", "ornamentale Muster" oder "Bandwerkornamente". Gebräuchlich sind die Bezeichnungen "Arabesken" für orientalische und "Mauresken" für abendländische Bücher. Im Gegensatz zu den figürlichen Platten sind Ornamentplatten schwer zu definieren und zu beschreiben. In der Universitätsbibliothek Graz, wo man bei den Einbänden der Sondersammlungen 288 solche Platten zählte, hat man eine Systematik erarbeitet, die sie suchbar macht. Die Ordnung erfolgt zunächst nach den äußeren Umrissen der Platte und verzweigt sich dann in Untergruppen. Drei Zettelkarteien ermöglichen den Zugriff auf dieses System.

Der letzte Vortrag der Tagung beschäftigte sich mit einem bisher wenig beachteten Thema: Eike Barbara Dürrfeld (Herten) sprach über Buchschließen. Der Forschungsstand über diese Metallspangen, die für den gewöhnlichen abendländischen Holzdeckelband im Mittelalter und der frühen Neuzeit typisch sind, ist völlig unbefriedigend. Frau Dürrfeld entwickelte daher ein Konzept zur wissenschaftlichen Erforschung dieser Materie, das eine kombinierte Auswertung bucharchäologischer Untersuchungen, schriftlicher und bildlicher Quellen, archäologischer Bodenfunde und Einbandmodelle vorsieht.

Bereits traditionell steht am Schluß jeder Jahrestagung die Einladung zur nächsten:
Im Jahr 2000 werden sich die Einbandforscher in Münster treffen. Als Termin wurde Donnerstag, 28.9. bis Samstag, 30.9.2000 festgelegt. Das Programm wird rechtzeitig in der Fachpresse veröffentlicht und ist dann auch auf der Homepage des AEB abrufbar: http://aeb.sbb.spk-berlin.de

Angelika Pabel

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Aktualisiert am 23.02.2006